von Matthias Schündehütte
Irgendwann ist es soweit.
Dabei hatte es ganz vielversprechend angefangen an diesem 18. Mai 2004. Es war kein Hammerwetter angesagt, doch mäßige Thermik war allemal zu erwarten. Allerdings entsprach die Basishöhe in den letzten Tagen nicht ganz meinen Anfängerwünschen, die üblichen gut 2000m MSL ließen doch häufig meinen streckenfliegerischen Vorwärtsdrang versiegen.
Aber es lief gerade ein Streckenfluglehrgang an der DASSU, und Bernd wollte mit seinen Schützlingen ins Inntal. Das bot doch immerhin die Gelegenheit, sich bis an den Kaiser dranzuhängen. Das Inntal traute ich mir noch nicht zu. Ich hatte mich bei allen meinen Vorhaben immer nach Osten ausgerichtet, deshalb war ich mental auf den Westen überhaupt nicht vorbereitet. Aber der Kaiser stand ganz oben auf meiner Liste – hauptsächlich wegen meines fatalen Irrtums im letzten Jahr, bei dem ich auf dem Rückflug vom Paß Thurn die Loferer Steinberge mit dem Kaiser verwechselte und mich dann in St. Johann versenkt hatte.
Also Kaiser! In meinem geliebten Standard-Cirrus D-3000! Start war um 10:45 Uhr MESZ, so früh wie möglich und so spät es meine Fähigkeiten verlangten. Man muß sich ja auch eine Chance geben… Dabei zeigte sich einmal mehr, daß die letzten Höhenmeter beim F-Schlepp die wichtigsten und billigsten sind. Ich ließ mich auf 900m über Platz in den Hausbart schleppen und hatte doch einige Momente zu suchen, bis ich den Bart dann endlich hatte. Glücklich auf 1750m MSL angekommen sah ich Bernd in der K21 weit unter mir – sie hatten es offensichtlich bei einem 600m-Schlepp bewenden lassen und versuchten gerade, sich an der „Zahnradbahn“ wieder auszugraben. So hatten sie 10 € gespart und bestimmt eine halbe Stunde verloren, wobei die ganze Aktion auch hätte schief gehen können und sie sich am Ende der Warteschlange am F-Schlepp wiedergefunden hätten.
Mit Dranhängen war also erst mal nix. Ich flog über den Osthang des Geigelstein zur Rudersburg, wo ich mich auf immerhin 2100m MSL hocharbeiten konnte. Da hörte ich von Bernd im Funk auf die Frage eines Lehrgangsteilnehmers, daß 1800m locker reichen würden um zum Kaiser zu fliegen und gegebenenfalls auch wieder zurück zu kommen. Das war die entscheidende Information im richtigen Moment, danke Bernd!
Jetzt oder nie! Ich flog zum Kaiser, und zwar auf die Ostecke, genauer: auf die Rippe, die vom Zahmen Kaiser in nordöstlicher Richtung abfällt, ganz wie es im Schulbuch steht. Ebenso schulbuchmäßig waren dann auch die Aufwinde, die ich dort fand. Bis zum Stripsenjoch kam ich wieder auf 2200m MSL und meine Stimmung stieg entsprechend der Flughöhe. Jetzt war erst einmal Sightseeing angesagt. Ich beschloß, die Südseite des Kaisers zu erkunden und er war mir dabei wohlgesonnen, denn gleich zu Beginn an seiner Ostecke half er mir mit einem kräftigen Bart noch einmal bis an die Wolkenbasis.
Es war ein Traum! Mich hatten bereits die Loferer Steinberge mit ihrem nackten Fels begeistert, und dieser Kaiser stand den Loferern in nichts nach. Zumal auch immer wieder vom Hangfuß kräftige Aufwinde empor kamen, die es mir erlaubten, im Geradeausflug die Schönheit dieses Berges zu genießen. Am Westende lugte ich selbstverständlich zum Inntal hinüber, aber ich war wirklich überhaupt nicht auf den Westen vorbereitet, meine Strecken liegen erst mal im Osten.
Auf dem Rückweg half mir der vielgepriesene Gaudeamusbart wieder auf meine Ausgangshöhe, wodurch meine erste Bekanntschaft mit dem Kaiser eine wirklich „runde Sache“ geworden ist.
Doch wie jetzt weiter? Es war ja gerade mal 12:00 Uhr und zurück nach Unterwössen wollte ich noch nicht. Also auf nach Osten! Wenn ich irgendwann mal zum Grimming will (was mein nächstes Ziel immer noch ist), dann mußte ich mich ja nun mal langsam mit der Strecke dahin vertraut machen.
Die nächste Station Richtung Osten ist die Steinplatte, zu der ich nun aufbrach. Der Vorflug klappte mit sehr geringem Höhenverlust, und vor dem Steinplattenparkplatz wartete gleich der nächste Bart – es lief wie am Schnürchen. Weiter zur Ostecke, wo auch nochmal ein guter Bart stand, den ich jedoch nur zwei „Umdrehungen“ nutzen konnte – schon wieder die Basis! Höher ging nicht und so setzte ich aus 2375m MSL zur Talquerung über Lofer zum Hundshorn an, das ich nur 50m tiefer erreichte. Weiter über den Gerhardstein zum Hochkranz. Mittlerweile waren 200m verloren und ich war jetzt schon ein Stück weit in unbekanntes Gebiet vorgedrungen, so daß ich wieder etwas Höhe nachtanken wollte.
Der Hochkranz gab aber nichts her. Ganz im Gegenteil, meine Suchschleifen kosteten natürlich weiter Höhe. Also nix wie zurück, ich hatte noch 2100m MSL – das würde wohl ziemlich knapp bis zur Steinplatte. Aber am Hundshorn war doch was gewesen, vielleicht würde mich dieser „Hoffnungsbart“ ja retten.
Da war auch was, aber ich schaffte es nicht, den Aufwind zu zentrieren. Zu zerrissen das Ganze, letztendlich habe ich mich nur weiter nach unten gearbeitet. „Jetzt bloß schnell heim“ war mein einziger Gedanke. Aber wie unterschied sich der Rückweg doch vom Hinweg! Gut 2m/s Sinken hatte ich auf einmal auf der Uhr über dem Loferer Tal und das Ostende der Steinplatte erreichte ich in 1400m MSL weit unter Grat.
„Sollte es jetzt wirklich soweit sein?“ kam mir zum ersten Mal der Gedanke an eine Außenlandung. Ich schaute nach unten und befand das Gelände für durchaus landbar. Ich hatte zwar noch keine Wiese ausgewählt, aber ich erinnerte mich, daß direkt unterhalb der Steinplatte doch eine Außenlandemöglichkeit sein sollte. Und so, wie es da unten aussah, erschien mir das recht glaubhaft. Außerdem war ich ja noch gut 600m über Grund und vielleicht geschah ja doch noch ein Wunder…
Danach sah es sogar erst einmal aus, denn etwa in der Mitte der Sonnwendwand fand ich tatsächlich einen Bart. Nichts Tolles und auch ziemlich zerrupft, aber es ging definitiv nach oben! Und nach Steigwerten fragt in so einer Situation wohl niemand mehr.
„Das wär‘ ja ’n Ding, wenn ich tatsächlich noch mit einem blauen Auge davon käme“keimte sofort wieder Hoffnung in mir auf. Bis 1500m MSL kam ich wieder hinauf, aber dann ging leider nichts mehr, der Bart war zu Ende.
Und wieder Saufen – mit weit über 2m/s ging es in den Keller. Offensichtlich ein kräftiges Lee südlich der Steinplatte, das mich so gnadenlos zu Boden drückte. An den Wind hatte ich bei meiner Fliegerei überhaupt nicht gedacht, was sich nun bitter rächte. Jetzt wurde es aber langsam Zeit, sich um einen Landeplatz zu kümmern! Ich blickte sehnsüchtig in Richtung St. Johann, aber das recht ausgedehnte Waldgebiet, das zwischen Waidring und Erpfendorf liegt, ließ mich diesen Gedanken rasch verwerfen. Selbst wenn meine Flughöhe unter normalen Umständen vielleicht noch gereicht hätte – bei diesen Abwinden wäre es ein unkalkulierbares Risiko gewesen. Denn was wäre, wenn es nicht reichte? In den Wald landen? Nein danke!
Nordwestlich von Waidring fand ich nochmal einen Nullschieber, der es mir erlaubte, die Gegend unter mir gründlich zu inspizieren. Ich war noch 450m über Grund und hatte schnell zwei größere Flächen gefunden, die eine Landemöglichkeit boten. Nach dem dritten Kreis hatte ich meinen ersten Kandidaten aus den Augen verloren, stattdessen leuchtete ein Stück frisch gemähte Wiese zu mir herauf.
„Hmm… etwas klein… Zäune? Hindernisse? Anflug? Sieht eigentlich ganz gut aus… Die Wiese ist ja viel größer als der gemähte Bereich… Und da ist wirklich kein Zaun dazwischen? Nee, ich kann nichts erkennen… Die Straße wäre auch nicht weit weg… Nein, da IST kein Zaun! Von wo kommt der Wind? Egal, die Wiese geht leicht bergauf, damit ist die Landerichtung klar! Hmm… Das könnte klappen… WIRKLICH KEIN ZAUN??? Beim besten Willen – ich kann keinen erkennen!“
Mein Nullschieber trug noch immer. Das konnte jetzt gehen bis zum jüngsten Tag. Aber es half ja nichts, höher bin ich nicht gekommen und ewig konnte ich die Landung ja nun auch nicht vor mir herschieben. Und ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt vierhundertachtunddreißig Landungen gemacht – jetzt war es eben an der Zeit, das Gelernte auch mal richtig zu nutzen! Und eine Chance hatte ich doch allemal, so schlecht sah die Wiese wirklich nicht aus. Und einen Zaun mittendrin hatte ich immer noch nicht gefunden.
„Also los! Ab zur Position und Höhe abkreisen. Bloß nicht zu früh abfliegen und zu hoch kommen, und nicht zu dicht an der Landerichtung, damit auch noch ein Queranflug bleibt. Und auf die Fahrt achten, um Himmels willen keinen Strömungsabriß in der Endanflugkurve! Aber auch nicht zu schnell, soo lang ist die Wiese nun auch wieder nicht. Und wie lange den Gegenanflug? Hmm… ach, nach Gefühl wie in Unterwössen, bloß nicht zu kurz. Also los jetzt! Fahrwerk ‚raus, Fahrt 90 km/h, na, können auch 100 km/h sein, aber nicht mehr! Höhe sieht gut aus, jetzt noch ein bißchen und dann den Queranflug… Hmm, hättest doch noch länger im Gegenanflug bleiben sollen, aber jetzt isses zu spät, weiter! Fahrt? 100 km/h – Ok! Also jetzt Endanflug – uuuund rrrrum! Und Klappen, oh, Klappen voll!! Mist, der sch…. Cirrus geht nicht ‚runter! Hilft nix, da ist schon die Wiese, dann halt mit dem Knüppel, der Bock muß ‚runter! Uuuuuund voooorsichtig Abfangen… Oh jeh, mit 120 km/h „eingeschlagen“ – aber sanft aufgesetzt! Jetzt aber bremsen! Oh, da kommt schon das hohe Gras, na ja, 120 km/h eben. Wenn da jetzt ein Zaun wäre, wäre ich einen Kopf kürzer! Ist aber keiner! Und das bremst jetzt! Na, jetzt gibt’s doch noch einen Ringelpietz? Knüppel nach vorne, damit es das Leitwerk nicht abreißt! Aber es ist ja schon langsam, da passiert wohl nichts mehr. So, Kiste steht! Puh! Ist an Dir noch alles dran? Ja, sieht so aus. Hat geklappt! Das war also Deine erste Außenlandung! Na gut, hätte schlimmer kommen können! Komm, jetzt schauen wir mal den Flieger an!“
Der Flieger hatte es augenscheinlich auch gut überlebt, einzig das Fahrwerk war voller Dreck und Gras, aber selbst die Fahrwerksklappen waren noch vollzählig vorhanden. Und der 120°-Ringelpietz war ja erst spät bei recht niedriger Geschwindigkeit passiert, so daß mich auch beim Gedanken an Jacki, unserem Werkstattmeister, keine Angstgefühle beschlichen.
Still war es. Merkwürdig, ungewöhnlich still. Ich begann mich umzusehen. Ich hatte die Wiese noch lange nicht ausgenutzt, das hohe Gras hatte wirklich vorzüglich gebremst. Auch der Flurschaden hielt sich in sehr überschaubaren Grenzen. Gerade mal die Spur des Fahrwerksrades. Dafür sollte mir der Bauer nicht den Kopf abreißen.
Apropos Bauer: Den sollte ich ja jetzt vielleicht mal suchen. Und bei der DASSU anzurufen wäre bestimmt auch keine schlechte Idee. Das machte ich zuerst. Das Handy hatte guten Empfang und so konnte ich Stefan Maser gleich den Stand der Dinge berichten. Er bot an, mich abzuholen, was ich erleichtert annahm. So weit war es ja Gott sei Dank nicht, etwa 25km Fahrstrecke. Aber einen Moment könne es schon noch dauern – kein Problem, das Wetter war ausgezeichnet (für Fußgänger) und ich hatte ja auch noch einiges zu erledigen.
Nebenan waren einige abgezäunte Areale – Pferdekoppeln, wie ich jetzt sah! Das war ja toll, daß meine Außenlandung ausgerechnet neben einem Pferdestall stattgefunden hatte! Dazu muß man wissen, daß ich seit meinem 11. Lebensjahr (mit Unterbrechungen) auf dem Rücken der Pferde zu Hause bin und auch in Berlin seit gut 15 Jahren regelmäßig drei Mal in der Woche reite.
Ich ging auf die Koppel und lief zu einem der Jungs, der gerade eines seiner Tiere longierte, um ihn nach dem Bauern meiner Landewiese zu befragen. Schöne Pferde hatten die da und es war mir ein Leichtes, mich erst einmal eine halbe Stunde über Pferde und die Reiterei zu unterhalten. Ich denke, jeder hat so seine Methoden, Streß abzubauen – diese war für mich genau die Richtige.
Der Bauer war selbstverständlich bekannt und ich mußte gerade mal über die Straße laufen, um ihn zu finden. Als ich ihm erzählte, daß ich seine Wiese zum Flugplatz umfunktioniert hatte, verfinsterte sich erst einmal seine Mine. Nach der anschließenden Ortsbegehung war aber auch er der Meinung, daß das ja alles halb so schlimm sei, aber ein Flurschaden natürlich schon da wäre und seine Wiese etwas gelitten hätte. 10 € wolle er haben, und ich beeilte mich, ihm den Schein in die Hand zu drücken.
Nachdem ich zurück auf dem Reiterhof noch ein Glas Wasser getrunken und eine weitere Entspannungszigarette geraucht hatte, begann ich, das Flugzeug für den Transport vorzubereiten. Also Klebeband entfernen, Ruderanschlüsse suchen, finden und öffnen (ich hatte noch nie einen Standard Cirrus abgerüstet) – die Zeit ging rum und bald kam dann auch Stefan mit seinem Kombi und dem offenen DASSU-Hänger hintendran. Den Tobias hatte er auch noch mitgebracht, so daß der Flieger schnell und problemlos auf dem Hänger verstaut wurde.
Blieb nur noch der Segen von Jacki. Als wir nach kurzer Zeit wieder auf dem Unterwössener Platz ankamen, ging ich mit einem etwas mulmigen Gefühl im Bauch – aber nichts desto trotz sofort – in die Werkstatt und beichtete, was mir widerfahren war. Oh jeh, das Fahrwerk sähe ja schlimm aus, ich solle mal aufbauen und dann würde er sich die Sache genauer ansehen, sagte Jacki, nachdem ich das Geschehene so ehrlich wie möglich geschildert hatte. Gut, jetzt wußte ich ja, wie das beim Cirrus geht und nach dreimaliger Kontrolle der Ruderanschlüsse (die man blind montieren muß) und aufwendiger Räumung des Fahrwerkskastens sagte ich in der Werkstatt Bescheid und harrte der Dinge, die da noch auf mich zu kommen könnten. Das „verbogene Fahrwerk“ war übrigens ein verbogener Schutzblechhalter, den ich bei der Reinigung gleich wieder gerichtet habe.
Jacki kam mit Taschenlampe und Spiegel und kontrollierte äußerst gewissenhaft das ganze Flugzeug. Mir war nicht sehr wohl in meiner Haut, aber offensichtliche Beschädigungen hatte ich eigentlich nicht feststellen können. Aber man weiß ja nie, was ein so erfahrener Werkstattmeister noch zu Tage fördert…
Nein, das sähe alles ganz ordentlich aus. Ich könne das Flugzeug in die Halle stellen.
War ich erleichtert!!! Jetzt war also meine erste Außenlandung wirklich abgeschlossen und es war tatsächlich nichts passiert. Das sollte mir zwei Kästen Bier wert sein. Eine „Platzrunde“ ist natürlich Pflicht nach einer Außenlandung, nach einer ersten und erfolgreichen zumal.
Nachwort
So ganz verstanden habe ich das Wettergeschehen an diesem Tage bis heute nicht. Offenbar hat der Wind über die Mittagszeit aufgefrischt oder er hat gedreht oder was weiß ich… Jedenfalls war südlich des Kaisers absolut nichts von einem Lee zu spüren, auch beim Hinflug über das Loferer Tal war noch alles in bester Ordnung. Mein Rückflug erfolgte auf identischer Linie, etwas tiefer allerdings, und ging fulminant in den Keller. Na, vielleicht erklärt es mir ja irgendjemand irgendwann.
Schwerwiegender war dann schon die Angst, die in den Wochen nach der Außenlandung aufkam. Am Tage selbst war ich noch glücklich, meine „Feuertaufe“ bestanden zu haben. Danach aber erinnerte ich mich an diesen massiven Schrecken, den ich bekam, als ich vom gemähten Teil der Wiese in das hohe Gras kam. Wenn da jetzt doch ein übersehener Zaun gestanden hätte? Diese Vorstellung eines im buchstäblich letzten Moment geköpften Segelfliegers verfolgt mich, seit ich im ‚AEROKURIER‘ die ersten Bilder von Holländischen Segelflugzeugen mit ihren Stahlrohrkäfigen im Cockpit gegen Weidezäune gesehen habe. Mich schaudert jetzt schon wieder, wenn ich diese Zeilen schreibe. Diese Gedanken plagten mich noch einige Wochen nach der doch so wunderbar geglückten Außenlandung. Aber das mag ein sehr persönliches Problem von mir sein.
Jetzt, fast ein Jahr später, ist wohl doch ein Zuwachs an Selbstvertrauen übriggeblieben. Ich denke, das Risiko einer Außenlandung schreckt mich nicht mehr so sehr, wie das vorher der Fall gewesen ist. Insofern war es wahrscheinlich ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zum Streckenflieger.
Kommentar von Jan zum Wetter:
Das praktische Programmchen „IGCView“ von Eric Svensson zeigt für den 18. Mai 2004 eine einigermaßen klassische Hochdrucklage. Zwar lagen wir noch am östlichen Rand des Hochs, aber die Druckverteilung am Boden ist so flach, dass es keine für die Fliegerei relevante überregionale Nordströmung in niedrigeren Luftschichten gegeben haben kann. In der Höhe liegen die Isohypsen zwar etwas enger beieinander, aber Matthias‘ positive Erfahrungen am Kaiser zeigen wiederum, daß der mäßige Nordwind im 500-hPa-Niveau nicht bis zu dem weniger als halb so hohen Berg durchgegriffen haben kann, geschweige denn an Steinplatte oder Sonnwendwand das Lee verursacht haben kann. Überregionaler Wind (Gradientwind) spielte an diesem Tag also offenbar so gut wie keine Rolle.
Stattdessen legt die Höhenlage, in der sich Lees gebildet haben, die Vermutung nahe, daß der sogenannte „Bayerische Wind“ daran schuld sein könnte, also die durch die thermische Aktivität des Gebirges verursachten Talwinde, die vom bayerischen Alpenvorland aus durch die nach Norden offenen Täler blasen. Charakteristisch für jeden Talwind ist, daß er – aufgrund seiner Entstehung geht das gar nicht anders – tief unten in den Talfurchen bläst, also den Talgrund in einer begrenzten und oft nach oben ganz scharf endenden Schichtdicke ausfüllt. Wird diese Schicht mit zunehmender Thermikaktivität im Tagesverlauf dicker, dann werden einzelne niedrige Hügel und Rippen nicht mehr um-, sondern überströmt. Einer der ersten Hänge, die auf diese Weise vom Talwind „geschluckt“ werden, ist unsere Gscheurer Wand. Anstatt also hangparallel Richtung Achberg zu blasen und dort fast rechtwinklig durch den Klobenstein abzuknicken, entscheidet sich der Wind plötzlich, den Wössener Haushang zu überströmen, wobei er natürlich auf der Luvseite Hangaufwind und auf der Leeseite (dem Abhang der Rauhen Nadel Richtung Kössen) Abwind erzeugt. Wächst die Schichtdicke weiter, dann kann es vorkommen, daß nicht mehr nur solche einzelnen Hindernisse überströmt werden, sondern daß sich die Talwinde verschiedener benachbarter Täler zu einem großen System vereinigen, welches dann als „Bayerischer Wind“ ganze Teilstücke der Randketten überströmt.
Ich vermute, daß genau das am 18. Mai 2004 der Fall war. Thermisch war der Tag offenbar recht gut und sicherlich aktiv genug, um kräftige Talwindsysteme auszulösen. Schon morgens beim Wegfliegen könnte der durch den Klobenstein quer über das Kössener Tal gegen die Nordostrippe des Zahmen Kaisers prallende Talwind des Achentals Matthias geholfen haben, an dieser Rippe sofort Aufwind zu finden. Daß der Wilde Kaiser hingegen in seiner Südwand überhaupt nicht leeig war, liegt zum einen an seiner Höhe, die es dem Talwind meist unmöglich macht, direkt oben über die gleichmäßig hohen Grate zu klettern. Zum anderen ist das Massiv in Ost-West-Richtung extrem breit, so daß auch die seitliche Umströmung durch die Talwinde des Achentals im Osten und des Inntals und Ellmauer Tals im Westen (außer vielleicht unmittelbar an den Ecken) kein relevantes Lee mehr hervorrufen kann. Es kommt allerdings, wenn auch sehr selten, vor, daß der Kaiser tatsächlich vollständig vom Bayerischen Wind (vermutlich im Zusammenspiel mit starkem Nord- oder Nordwestwind in der Höhe) geschluckt wird und dann trotz besten Thermikwetters in seiner Südwand ein gewaltiges Lee entwickelt.
Nun, dies war offenbar nicht der Fall, wie üblich ging der Kaiser thermisch bestens. Die Steinplatte hingegen war meiner Meinung nach vom Bayerischen Wind, der über den Masererpass und Reit im Winkl fließt und entlang der flach ansteigenden Winklmoosalm keine Hindernisse findet, bereits überströmt. Dennoch gab sie beim ersten Anflug ebenfalls einen mit 2,5 m/s extrem guten Bart ab. Das muß kein Widerspruch sein, denn unterhalb des Parkplatzes liegen dort lange, bewaldete Südhänge windgeschützt in einer Art großem Kessel. Hier kann sich Warmluft bilden und aufsteigen. In der Einstiegshöhe von etwas über 2000m MSL, hoch über dem Parkplatz, war dieser Bart offensichtlich schon bestens organisiert. Wie die Loggeraufzeichnung zeigt, war der Windversatz zwischen 2000 und 2350 Metern recht gering, der Bart war also dort auch schon sowohl aus der Talwindschicht des Waidringer Tals selbst als auch aus dem Lee des Bayerischen Windes heraus, so daß er bestens nutzbar war. Tatsächlich war dieser Bart also ursprünglich ein Leebart, der aber durch die leeauslösende Schicht hindurchgestiegen ist und in der Höhe, in der Matthias ihn angetroffen hat, bereits pillegrade über seinem Auslöser stand (siehe Bild).
Beim Zurückfliegen deutlich unter Grat war zwar auch aus den Südhängen aufsteigende Warmluft da, wie der Nullschieber über der Außenlandewiese, besonders aber der Steigkern in der Mitte der Sonnwendwand zeigt. In der geringen Höhe ist diese Thermik aber einfach noch nicht so breit und so gut organisiert wie einige hundert Meter höher. Hinzu kommt, dass die kurzen Heber schon aus Sicherheitsgründen unterhalb des Grates nicht so effizient ausgeflogen werden können wie in rundum freiem Luftraum. Vor allem aber schlägt jetzt das Lee zu: starkes Sinken zwischen den Bärten, und wegen der Turbulenz schlecht zentrierbares Steigen ließen keine Chance, wieder wegzukommen. Ich glaube, dass die Außenlandung unter der gegebenen Umständen ziemlich unvermeidbar war.