Die ersten 600km

von Martin Müller

[Walter Weber]Um 6:00 Uhr morgens des 28. Juni 1992 bin ich bei stahlblauem Himmel auf dem Weg zum Flugplatz Unterwössen. Heute will ich mal Strecke für die DMSt anmelden. Am Flugplatz angekommen bin ich mir nicht sicher, wohin ich heute fliegen soll, und so hole ich mir Rat bei Walter Weber ein, der wie immer um diese Uhrzeit schon am Flugplatz anzutreffen ist.

Walter meint, die Alpensüdseite wäre heute gut, das stimmt mich zwar skeptisch, da ich jenseits des Hauptkammes bis jetzt nur wenig Flugerfahrung habe, dennoch entscheide ich mich für Dobratsch – St.Anton als Wendepunkte. Am F-Schlepp Start herrscht großes Gedränge, aber auch großer Optimismus. Mit Helmut Roemer stehe ich ganz vorne zum Doppelschlepp, er hat 1000km angemeldet und will ganz früh los.

[Doppelschlepp]

Um 9:30 Uhr, mir eigentlich zu früh, setzt sich die Remorqueur vor uns in Bewegung, bei immer noch wolkenlos blauem Himmel. Nach einem ruhigen Schlepp geht der Jochberg dann aber überraschenderweise doch schon mit 1,5m/s Steigen auf 2100m MSL. Mit dieser Höhe kann ich über den Flugplatz gleiten und schon kurz vor 10:00 Uhr meinen Abflugpunkt fotografieren, um gleich wieder zurück zum Jochberg in den Morgenbart zu fliegen.

Nach einer kurzen Thermikpause geht’s wieder hoch und ich fliege über Hörndlwand, Dürrnbachhorn und den Loferer Almen in Richtung Steinernes Meer. Ab Lofer folge ich den niedrigen Hügeln, die östlich der Straße nach Saalfelden liegen. Für den Vormittag ist die Thermik hier zwar etwas zerrissen aber dennoch verlässlich, und das bringt mich an die Westecke des Steinernen Meeres unter das Breithorn. Hier muß ich meine SB-5 nah an den Fels steuern, um die Thermik dann im engen Kreis zu zentrieren. Über den Hundstein geht es dann ohne Probleme zum Bernkogel, dem markanten Berg am Eingang des Gasteiner Tals.

Auf Gipfelhöhe erreiche ich den Rücken, der mich nach Böckstein an die Hauptkammhürde führt. Unter mir kann ich beobachten, wie sich das braungrüne Höhengras im Aufwind wiegt. Obwohl sich hier gerade erst erste Kondensen bilden, trägt die ganze Talflanke so gut, daß ich fast kreislos über die Autoverladestation am Ende des Tales gelange. Am Stubnerkogel muß ich nochmal kreisend Höhe für die Hauptkammquerung holen. In guten 2-3 m/s Steigen, die aus der steilen Südostflanke heraufströmen, geht es aufwärts. Während des Kreisens kommt Walter mit seiner DG 202 „MT“ zu mir in den Bart. Genügend hoch queren wir dann gemeinsam auf die Alpensüdseite ins Mölltal.

[Boeckstein]

Der erste Bart Kärntens entäuscht uns, und wir fliegen weiter an die Ostflanke des Salzkofels, aber auch hier nur ein knapper Meter Steigen. Walter verlässt die aufsteigende Luft schon vorzeitig Richtung Goldeck in dunstiger werdende Luft. Ich folge ihm unüberlegterweise anstatt hier mehr Höhe herauszuholen. Das hat zur Folge, daß er dank des guten Gleitens der DG über der Gipfelkuppe des Goldeck ankommt und den Aufwind zu fassen bekommt, ich aber 150m tiefer um die östliche Gipfelschulter herum auf die Südseite muß und kein ausfliegbares Steigen finden kann, sondern hier noch an Boden verliere.

Tief und mit etwas mulmigem Gefühl segle ich weiter in Richtung Gailtal – Walter habe ich bereits aus den Augen verloren. Als ich gar nicht damit rechne, regt sich das E-Vario über den niedrigen Waldbuckeln östlich des Weißensees. Es ist zwar nur 1 m/s Steigen, aber im Moment ist es mir mehr als genug. Die Wetteroptik hier und zur ersten Wende ist nicht gerade sehr verlockend. Tiefe, sich ausbreitende 6/8 Cumulusbewölkung, der Sendemast am Dobratsch, meinem Wendepunkt, ist gerade noch frei von den wässerigen Wolken der Südluftthermik.

Mit Gipfelhöhe schieße ich mein Wendefoto, als Walter zu mir fliegt und mir mit der Hand aus dem Fenster zuwinkt. Er hat hier extra auf mich gewartet um mich zum Weiterflug zu ermutigen. Miteinander sprechen können wir leider nicht, da mein Funk kurz nach dem Start ausgefallen ist. Anschließend verschwindet Walter unter den feuchten Thermikschwaden des Gailtals nach Westen – erst spät am Abend werden wir uns wiedersehen.

Meine Streckenabsichten habe ich nun endgültig verworfen und will schnellstmöglich zurück auf die Alpennordseite in besseres Flugwetter. Über die Kreuzeckgruppe geht es langsam an Lienz vorbei in wieder klare und blaue Luft Richtung Hauptkamm. Doch für die Querung dieser Barriere nach Norden brauche ich einiges mehr an Höhe, und so fliege ich westlich der Glocknerstraße weiter, zweifelnd über die Thermikverhältnisse vor mir.[Heiligenblut]Kurz vor Heiligenblut schüttelt es dann aber gewaltig an der SB-5 – mit 4 m/s Steigen geht es ohne Wolkenzeichen auf 3800m MSL, unglaublich hoch gegenüber dem Tiefpunkt im Gailtal. Mit dieser Höhe kann ich natürlich ohne Probleme den Hauptkamm über die Glocknerstraße queren, vorbei am Wiesbachhorn gleite ich zur Schmittenhöhe an den Pinzgauer Spaziergang.

Es ist jetzt 14:30 Uhr und beim Blick nach Westen mit schönen, hohen Thermikwolken, wie sie nur die wenigen wirklich guten Streckentage eines Jahres an den Himmel zaubern, habe ich sofort meine Strecke mit der zweiten Wende St.Anton wieder auf dem Plan. In dem mir nun vertrauten Fluggebiet komme ich schnell, zeitweise auch kreislos bis über das Kreuzjoch. Hier ist heute wirklich alles in der Luft was Flügel oder Laken und Leinen hat. Den Rastkogel im Visier, quere ich über das Zillertal in die Tuxer Alpen bei spürbar auffrischendem Nord- oder Nordwestwind. GPS und Rechner zur genauen Windbestimmung hatte ich damals noch nicht. „Die Tuxer sind fuchser“ habe ich irgendwo am Flugplatz mal gehört und auch ich muß hier aufpassen, denn viel Spielraum zwischen Berg und Wolke habe ich hier nicht.

Südlich vom Rosenjoch gleite ich über die Brennerstraße ins Stubaital, nach Neustift, wo ich mit einem heftigem Lee empfangen werde. Die Anzeigen stehen auf Anschlag Fallen. Ich drücke nach und erreiche den Südhang auf halber Höhe. Die Bergflanke aus Gras und Fels mit Lawinenschutzzäunen türmt sich hoch über mir auf. An einer Hütte vor mir flattert eine Fahne wie wild im thermischen Wind, über allem hängt eine hakenförmige Wolke. Heftige Böen treffen einen Moment später mein Flugzeug und kündigen einen heftigen Leebart an, der mich im engen Kreis mit 5 m/s Steigen wieder an die Basis über die Schnee- und Gletscherschultern der vor mir liegenden 3000er-Massive bringt. Weiter geht es über das Oetztal, den Wildgrat und das Piztal zum Venetberg, im regelmäßigen Auf und Ab, mit ausgeprägtem Fallen und starker Leethermik. Die Wolkenuntergrenze mit knapp 3400m ist zwar nicht schlecht, aber die Thermikverhältnisse mit der starken Nordströmung seit den Tuxern haben mich doch etwas langsam vorwärts kommen lassen. Auch die Routenwahl über den hohen Hauptkamm mit der geringen Bewegungsfreiheit stellte sich als zeitraubend und schwierig heraus. Der Venetberg hat mich noch nie enttäuscht und auch heute steigt es gut nach oben, so daß ich die Parseier Spitze in den Lechtalern auf Grathöhe anfliegen kann. Über der Gebirgskette zur Wende nach St Anton trägt es sehr gut unter einer Reihe schöner Streckenwolken. Am Talende vor dem Arlbergpass gleite ich über den Ort und schieße das zweite Wendefoto vom Bahnhofsgebäude St.Anton.

Wieder zurück an den Hängen nördlich des Ortes kann ich auf Anhieb ein bis zwei Meter Steigen ausmachen, mir ist es jedoch zu wenig, denn kurz zuvor waren es noch 3-4 m/s. Es ist schon 16:50 Uhr und ich will schneller werden, so fliege ich ostwärts auf den ansteigenden Grat zu und begehe damit einen entscheidenden Fehler. Das Lee schlägt sofort und ohne Gnade zu. Die SB-5 verliert jegliche Fahrt und sackt durch. Ich drücke stark nach, aber mein Vogel taumelt nach unten wie ein welkes Blatt im Herbstwind.

Ich fliege weiter Ostkurs (und falle mit den Varios am Anschlag) in der Hoffnung einen Leebart zu finden. Bei Pettneu aber ist meine Flughöhe auf gerade noch 400-500m über Talgrund geschrumpft, eine Landewiese neben der Bahnlinie habe ich schon ausgemacht – als sich nah am Hang doch wieder ruppiges Steigen ankündigt. Direkt an der Wand komme ich durch enges hangachten 150m höher über einen kleinen Geländevorsprung. Dort kann ich direkt an der Wand einkreisen. Unter mir auf der kleinen Kuppe winkt eine Familie mit Kindern zu mir herauf, glücklicherweise bleiben sie bald in der Tiefe zurück.

[SB-5]

Langsam lässt die Anspannung der drohenden Außenlandung nach und mit 1,5 m/s Steigen kann ich die Grate der Lechtaler wieder unter mir lassen, aber es ist schon 17:30 Uhr und die Thermik wird schwächer. „Nur noch so weit wie möglich Richtung Unterwössen kommen, damit die Rückholer nicht so lange fahren müssen“ denke ich mir. Über den Lechtalern bleibe ich hoch und komme mit Steigwerten um die zwei Meter noch recht gut vorwärts. Die Mieminger erreiche ich knapp über Gipfelniveau, finde aber kein brauchbares Steigen mehr. So gleite ich nördlich der Kammlinie mit vermindertem Sinken zur Hohen Munde. Kaum daß ich die Mieminger mit Kurs Innsbruck verlasse, drückt mich erneut ein Lee nach Seefeld hinunter. Die Nordkette baut sich immer höher vor mir auf, ich visiere eine niedrige, latschenbedeckte Kuppe westlich von Innsbruck an, über der noch ein Wolkenzeichen am abendlichen Himmel steht. Zwanzig Meter über Gipfel schneide ich den Bart, die Latschen unter mir werden im Aufwind geschüttelt. Mit über 2 m/s geht es nochmal bis an die Basis auf 3000m MSL hinauf, „Super“ denke ich, „vielleicht komme ich ja noch nach Kufstein“ – aber es ist schon 18:30 Uhr.

Über der Nordkette ist thermisch nichts mehr los, die Wolken haben sich aufgelöst oder sind auseinandergelaufen. Mit bestem Gleiten versuche ich durch Abfliegen der Nordflanken über Grat zu bleiben. Als ich nun so in ruhiger, abendlicher Luft segle, komme ich mir allein und hoffnungslos vor, so ganz ohne Funk – das letzte Flugzeug habe ich in den Lechtalern gesehen. Meine Freunde in Unterwössen werde ich heute wohl nicht mehr erreichen. Kurz nach Innsbruck komme ich unter Kammhöhe und muß nun auf die Südseite des Karwendels ins Inntal ausweichen. Sofort setzt Fallen ein. In der Gegend der Vomperlochklamm zupft ein letztes mal sanfte Thermik aus einer schattigen Scharte an der SB-5. In 20 Min. kann ich noch einmal knapp 200m erkämpfen, dann gleite ich in leichtem Fallen weiter Richtung Kufstein. Hoch über dem Rofangebirge steht noch ein ansehnlicher Cumulant im rötlichen Abendlicht, doch ich bin schon viel zu tief um den Aufwind noch zu erreichen.

Inntalseitig schwebe ich an dem Massiv vorbei und halte auf den langen Rücken zu, der zum Pendling führt. In Gipfelhöhe erreiche ich den Brandenberg, auf seiner Nordwestseite zeigt das Vario Null oder sogar leichtes Steigen. Jetzt merke ich erst erleichtert, daß hier in dieser Höhe der abendliche Talwind an die Hänge bläst. Für einen Höhengewinn genügt der Hangwind zwar nicht, doch ohne Höhenverlust komme ich 20km weiter bis unter den Pendling bei Kufstein mit seinem Gipfelhaus. Hier versuche ich noch ein paar Meter Höhe zu holen und Schock – jetzt wäre ich fast in die Drähte der Materialseilbahn geflogen, die hier an der Nordwestseite heraufführen. Die schon fast 10h Flugzeit haben doch schon an meiner Konzentration geknabbert? Gefährlich! Um ca. 19:40 Uhr gleite ich hinüber zum „Kufsteiner Hang“ an den Zahmen Kaiser. Seine Felsen leuchten schon rötlich im Abendlicht. Vielleicht weht ja hier auch noch der Talwind, 300 Meter fehlen mir, um das Wössner Tal zu erreichen. Gespannt fliege ich den Felsblock an und kann es dann kaum glauben als das Vario von Sinken langsam auf Null und dann noch bis auf über 2 m/s Steigen ausschlägt.

Es ist wie im Traum nach der Kämpferei der letzten Stunden. Die Abendsonne steht schon niedrig im Westen, ich hatte schon jede Hoffnung verloren noch heimzukommen, und hier kann ich nun mit Leichtigkeit den Grat überhöhen. Als ich ich nun ins abendliche Unterwössner Tal gleiten kann, löst sich die ganze Anspannung des Fluges und ein tolles Gefühl der Zufriedenheit macht sich breit, es noch heim geschafft zu haben, nachdem der Flug in St. Anton ja schon fast beendet war. Nach über 10h Flugzeit bin ich dann wieder glücklich in Unterwössen gelandet.

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