von Jan Lyczywek
Der restliche Juni war enttäuschend. Windiges Regenwetter bescherte uns Hangwind am Müllberg, und wir tobten nachmittagelang mit den Zagis durch turbulente Luft. Erst am 26. Juni 2004, einem Samstag und dazu noch dem verspäteten „längsten“ Tag des Jahres, kündigte sich wieder Zwischenhocheinfluss an, wenn auch unter scharfer westlicher Höhenströmung.
Endlich wieder fliegen! Morgens um fünf wache ich ganz ohne Wecker auf, und der Tag dämmert langsam unter breiten Abschirmungen herauf. So früh morgens ist die Luft samtweich und ruhig wie nie, das Gleiten aus der Winde streckt sich und ist still und schwerelos.
Nach einigen Platzrunden und ausgiebigem Frühstück bin ich fast ein wenig zu spät dran mit Aufrüsten. Als ich endlich am F-Schlepp ankomme, steht schon ein ganzer Pulk Flugzeuge startbereit und etwas unverschämt drängle ich mich gleich an vierter Stelle in die Startreihe.
Punkt elf zieht mich Stefan aus dem Platz. Die morgendlichen Abschirmungen haben einem optimistischen Himmel Platz gemacht, an dem sich schon seit einer Stunde erste frühe Kondensen kringeln. Als ich am Rechenberg in fast zwei Metern Steigen klinke, scheint sich der Eindruck zu bestätigen: wieder zu spät gestartet!
Mehr aus Gewohnheit und weil Mathias mit seinem Kestrel diesen Weg einschlägt, springe ich aus 2000 Metern zur Hörndlwand. Auf halbem Weg schon fange ich an, mit dieser Entscheidung zu hadern. Wäre nicht die nördliche Route durchs Salzburger Land besser gewesen? Im Frühjahr kamen wir hier am Alpenrand entlang eine Viertelstunde früher an den Dachstein als auf der klassischen Route über Lofer, Hochkönig und Rossbrand.
Wir diskutieren im Funk und fliegen bis zu der großen, tiefen Wolke am Sonntagshorn vor. Sie bringt aber kein rechtes Steigen und östlich vom Predigtstuhl scheint mir die Wetteroptik zu undurchsichtig. Vom Unterberg zum Rossfeld und weiter zum Tennengebirge sind die Talsprünge weit und wer weiß, wie sie bei der tiefen Basis gelingen. Wir drehen ab zur Loferer Alm, die zerissenes Steigen zurück auf 2100 Meter bringt. Tief um die Hangfüße des Hundstod ziehen Wolkenfetzen. Mathias traut sich dennoch, direkt nach Südosten ins Blaue zu gleiten. Ich bin feige und fliege zurück zur Steinplatte, die heute gerade mal einen Meter hergibt. Genug, um zum Ulrichshorn durchzugleiten, wo ich auf Westwind und Sonne hoffe. Es ist Steigen da, aber wie so oft verstehe ich nicht wirklich, wie die thermischen und dynamischen Strömungen hier zusammenwirken. Nach einer vergeblichen Acht werfe ich mich ans Hochsäul, den zuverlässigen Thermikberg mitten im Schießgebiet. Aus 1850 Metern geht es hoch auf 2300. An Tagen mit tiefer Basis kann man sich meist darauf verlassen, daß die Bärte eng genug stehen, und besonders die niedrigen Berge liefern relativ zuverlässigen Aufwind.
Als ich hundert Meter tiefer um die Südwestecke der Leoganger gleite, überraschen mich die Steinberge mit einer kompakten Wolkenmasse unterhalb der Grate, deren Basis weit unter meiner Flughöhe liegt. Eigentlich war das ein deutlicher Hinweis, direkt das Tal zur Sausteigen zu queren. Ich traue mich natürlich nicht, das tiefere Ostende der Leoganger scheint mir die sicherere Bank zu sein. Dort ist die Wolkenbasis höher und Mathias hat sich hier gerade aus 1900 Metern wieder hochgearbeitet. Als er abfliegt, steige ich unter ihm ein – und finde nichts mehr. Labilität und Wind, das heißt kurzlebige Bärte. Als ich 80 Meter verzockt habe, gleite ich mit dem Mut der Verzweiflung doch noch hinüber zur Sausteigen. Mathias findet dort nichts und gleitet durch zur Schmittenhöhe, aber in 1700 Metern mitten über dem Tal hilft mir diese Information nichts mehr.
Diesmal ist das Glück auf meiner Seite, ich stolpere in einen zerissenen, aber gesunden Leebart am Nordwestausläufer, der mir 250 Meter schenkt. Der Gipfel gibt mir nochmals hundert Meter dazu und damit genug Höhe, um zum Hundstein-Massiv zu queren.
Es ist schon eigenartig, wie sehr die verfügbare Basishöhe das eigene Höhenempfinden bestimmt. Vor drei Wochen kam ich zuletzt genau hier entlang und wäre mir mit 2000 Metern so gut wie abgesoffen vorgekommen, heute fühle ich mich als König und finde auf der östlichen Talseite sofort wieder Steigen.
Der Hundstein selbst dämpft meinen Schwung etwas, nach drei vergeblichen Suchkringeln bringt erst sein Südausläufer wieder 200 Meter Höhengewinn, in einem müden knappen Meter. Roland meldet sich aus Zell, er hat sich dort versenkt und läßt sich gerade wieder schleppen.
Mathias ist derweil einen Bart vor mir und das macht mich schneller. Ich traue mir immer erst dann längere Gleitstrecken und höhere Geschwindigkeiten zu, wenn jemand vor mir zweifelsfrei beweist, daß es dort auch geht. Warum schaffe ich das nicht alleine?
Am Filzkogel drehen wir nochmals zweihundert Meter auf und der Rückenwind schiebt uns bis an die Waldhügel westlich von Altenmarkt. Die Wetteroptik nach Osten wird endlich besser und das Steigen am Rossbrand bestätigt diesen Eindruck auch auf dem Integrator. Warum aber stehen die Bärte so weit nach Süden versetzt? Wir kreisen fast genau über den Hangfüßen des flachen Waldrückens.
Endlich habe ich das Gefühl, im guten Wetter angekommen zu sein. Einige wenige Kreise an der Südostecke des Dachstein sind eigentlich überflüssig, danach geht es geradeaus in tragender Luft bis zum Grimming. Der Rückenwind tut ein Übriges, den Gleitwinkel zu strecken. Mathias war noch etwas cleverer, während ich den Kanten an Stoderzinken und Kammspitz folge, fliegt er südlich der ins Tal verblasenen Wolkenbank und kommt hundert Meter höher an dem markanten Niederöblarner Hausberg an. Ich versteife mich darauf, am Grimminggipfel Höhe zu holen und eine vergebliche Acht kostet mich völlig erfolglose sechzig Sekunden. Das mag lächerlich erscheinen, aber in der Analyse eines langen Fluges erkennt man, daß es Verluste dieser Größenordnung sind, die sich zu schmerzhaften Einbußen addieren.
Schließlich gleite ich doch hinter Mathias her. Über uns steht offensichtlich eine Konvergenzlinie, aber ich bin zu tief, um sie zu nutzen. Die dreißig Kilometer zum Dürrnschöberl werden lang und ich komme unter dem runden Gipfel an. Erst östlich des Waldbuckels finde ich zerrissenes Steigen und verliere wieder Zeit. Ich setze alles auf eine Karte und fliege aus 1800 Metern den Triebener Hausbart an. Ich erreiche den Bart genau auf Ausklinkhöhe, tausend Meter über dem Triebener Platz, und der Aufwind ist zuverlässig wie im Mai. Nach genau fünf Minuten bin ich 700 Meter höher, das war der bisher beste Bart des Tages. Der Zeiritzkampel geht noch besser und überzeugt mich endgültig, die beste Wetterecke erreicht zu haben. Die Eisenerzer sind schnell wie immer und ab dem Reichenstein nimmt mich eine Konvergenz auf, die mit einem beeindruckenden Basissprung deutlich markiert ist. Zum ersten Mal gelingt es mir, einer solchen Linie über viele Kilometer zu folgen. Euphorie macht sich breit und ich beschließe, daß mein Wendepunkt heute die Rax sein wird. Das bringt mir einen 500-km-Zielrück und ausserdem ist die Rax als östlicher Eckpfeiler des Hauptkamms ein schönes Ziel.
Warum nur wendet Mathias seinen Kestrel schon südlich des Hochschwab? Hatte er nicht eigentlich den Seebergsattel als erste Wende ausgeschrieben? Das hätte mir eine Warnung sein können, aber ich bin viel zu beschäftigt damit, weiter sauber meiner Linie nachzufliegen, um mir darüber Gedanken zu machen.
Erst südlich der Veitsch muß ich wieder kurbeln und dieser Bart bringt mich an die Westecke der Rax, wo eine Libelle große Kreise um den Aufwind zirkelt. Das treibt mich noch einige Kilometer weiter und Punkt drei Uhr wende ich an der Grenze des Wiener Luftraums, knapp 250 Kilometer von zuhause.
Zurück bis zur Veitsch komme ich mit Gleitzahlen über 60 noch gut gegen den Wind an. Die Optik voraus hat sich aber in den letzen 35 Minuten vollkommen gewandelt.Wo zuvor eine geschlossene Wolkenbank vom Reichenstein entlang des Hochschwab bis östlich von Turnau die Konvergenz markierte, treiben jetzt sterbende Fetzen ohne definierte Basis vor dem Westwind her, durchlöchert von Sonnenstrahlen.
An der Veitsch malen ein Discus und die Libelle einen Bart an, den ich nicht finde. Nach vier Minuten ergebnisloser Sucherei begehe ich den entscheidenden Fehler des Fluges: anstatt nach Süden auszuweichen, wo über den niedrigen Waldhügeln um Turnau noch einigermaßen konturierte Wolken stehen, gleite ich ins Lee des Hochschwab und muß in dem engen Stichtal westlich des Seebergsattels sieben Minuten anstrengender Kurbelei unter Grat für dreihundert Höhenmeter opfern. Ungeduld treibt mich weiter, die Höhe ist schnell wieder verspielt. Die Aflenzer Bürgeralm hilft mit schwachem, zerrissenem Steigen, an dem nächsten Gupf westlich davon steht endlich wieder ein organisierter Bart.
Müdigkeit macht sich bemerkbar, ich fliege fahrig und unkonzentriert. Südlich von Vordernberg kurbelt ein Twin und ich bin froh, mich einfach nur dranhängen zu können. Als er an die östliche Reichensteinrippe wechselt, gehe ich ohne nachzudenken mit. Ich hätte wissen können, daß meine Höhe für dieses Manöver noch um vielleicht 50 Meter zu gering war. Der Fehler kostet mich wiederum kostbare zehn Minuten, bis ich endlich mit anderhalb Steigmetern auf 2300 Meter klettern und den Reichensteingipfel anfliegen kann. Direkt drüber langt es nicht, der Schwenk um das Nordende ist aber vertretbar und bringt mich schnell in turbulentes Steigen auf der Westseite. Einige Kilometer weiter schlägt ein brutales Lee östlich einer der Rippen des Zeiritzkampels unvermittelt in vehementen Hangwind an der Westseite um, aus dem ein merkwürdig breiter, lappiger Bart herausblubbert. Ich finde den Kern nicht und mir wird klar, daß ich heute nicht mehr nach Hause kommen werde. Zusammen mit dem Twin gleite ich bis unter das Dürrnschöberl. Wenigstens Niederöblarn will ich erreichen, um den Rückholern die Fahrtstrecke zu verkürzen.
Als ich südlich vom Dürrnschöberl nicht einmal mehr den breiten Leebart finde, den mir eine DG800 dort markiert, gebe ich auf. Ich bin müde und ausgelaugt und habe keine Lust mehr. Warum soll ich mich nach Niederöblarn durchkämpfen? In Trieben kenne ich einige der Flieger, es ist ein freundlicher Platz und zur Not kann ich dort übernachten und morgen heimfliegen.
Die Landung wird ein Einschlag ohne Abfangen und ich bin unzufrieden mit mir und der Welt. Der Empfang aber ist herzlich, der Streckencrack Werner ist da und der Fluglehrer Hermann. Tom und Stef, die beiden ambitionierten Junioren, fliegen noch, heute auf DG800 und Ventus. Vereinskameraden liehen ihnen diese beiden Privatflugzeuge – ein seltenes Beispiel für engagierte, praktische Jugendarbeit – und die Leistungen der Youngster rechtfertigen das Vertrauen.
Der Twin und die Libelle, die ich zwischen Rax und Dürrnschöberl immer wieder traf, saufen ebenfalls ab. Immerhin, ich bin nicht der einzige. Nach dem Anruf zuhause lege ich mich vor dem neu erbauten Vereinsheim in die Abendsonne und schlafe ein Weilchen. Drinnen haben die Triebener einen Kaffeeautomaten aufgestellt, ein grenzgeniales Wunderwerk. Sein Cappucino versöhnt mich mit allem und als Matthias schließlich mit dem Hänger kommt, bin ich schon wieder guter Dinge. Der Cirrus ist schnell abgebaut, es folgt eine Einladung zum Grillen und um 23:00 Uhr geht es über freie Autobahnen zurück in den Chiemgau. Bei Traunsteiners lodert noch das Feuer in der Bronx-Tonne und der Abend ist noch lange nicht zu Ende.